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BGH: X ZR 119/14 – Gestricktes Schuhoberteil

Der X. Senat des Bundesgerichtshofs hat sich in seinem Beschluss BGH: X ZR 119/14 – Gestricktes Schuhoberteil vom 31. Januar 2017 mit Entgegenhaltungen als möglichen Ausgangspunkt für einen Fachmann auseinander gesetzt. Der X. Senat stellte in einem Leitsatz klar:

Dass für den Fachmann eine bestimmte Entgegenhaltung als möglicher Ausgangspunkt von Bemühungen um eine Fortentwicklung in Betracht kam, darf insbesondere bei im Prioritätszeitpunkt sehr altem Stand der Technik nicht allein aus der sachlichen Nähe zur erfindungsgemäßen Lösung gefolgert werden. Enthält jedoch eine seit vielen Jahren bekannte technische Lösung bereits alle wesentlichen Elemente der Erfindung, bedarf die Annahme, die ältere Lösung liege außerhalb desjenigen Bereichs, in dem sich am Prioritätstag aus fachmännischer Sicht mögliche Ansatzpunkte für die Lösung des technischen Problems finden ließen, einer besonders sorgfältigen Prüfung.
Die Historie:

Die Beklagte ist Inhaberin des am 15. Dezember 2003 unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 18. Dezember 2002 angemeldeten und mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 571 938 (Streitpatents).

Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei unzulässig erweitert; er sei nicht neu und beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Die Beklagte hat das Streitpatent in der geltenden Fassung und mit zahlreichen Hilfsanträgen verteidigt. Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie das Streitpatent in einer weiter beschränkten Fassung, die dem erstinstanzlichen Hilfsantrag I entspricht, und hilfsweise mit acht weiteren Anspruchsfassungen verteidigt.

Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Aus den Gründen:

In der nachfolgenden Betrachtung wird der Fokus auf das Heranziehen des Stands der Technik als Ausgangspunkt für den Fachmann in Bezug auf erfinderische Tätigkeit gelegt. Die weiteren Aspekte und Ergebnisse der Entscheidung werden hierbei nicht beleuchtet.

Analog zum Problem-Solution-Approach formuliert der X. Senat des BGH das – in der Patentschrift nicht ausdrücklich angesprochene – technische Problem, mit effizienten Mitteln Strapazierfähigkeit und Festigkeit von textilem Schuhwerk bei Erhaltung des Tragekomforts zu erhöhen.

Als Lösung schlage das Streitpatent den in der Fassung der zweiten Instanz verteidigten Anspruch 1 vor.
Der BGH bestätigte die Auffassung des Bundespatentgerichts, dass der Fachmann als Fachhochschulingenieur der Fachrichtung Lederverarbeitung und Schuhtechnik mit mehrjähriger Erfahrung in der Herstellung und Entwicklung von Schuhen zu definieren sei.
Ob sich dem Fachmann ein bestimmter Stand der Technik als möglicher Ausgangspunkt seiner Bemühungen anbiete, hänge nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht davon ab, ob es sich hierbei um den nächstliegenden Stand der Technik handelt. Die Einordnung eines bestimmten Ausgangspunkts als – aus Ex-post-Sicht – nächstkommender Stand der Technik sei weder ausreichend ( BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008 – X ZR 89/07 , BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rn. 51 – Olanzapin) noch erforderlich ( BGH, Urteil vom 18. Juni 2009 – Xa ZR 138/05 , GRUR 2009, 1039 Rn. 20 – Fischbissanzeiger).
Die Wahl des Ausgangspunkts bedürfe daher der Rechtfertigung, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stelle ( BGHZ 179, 168 – Olanzapin; BGH, Urteil vom 5. Oktober 2016 – X ZR 78/14 , GRUR 2017, 148 Rn. 42 f. – Opto-Bauelement).
Dabei bilde das Alter einer bestimmten Entgegenhaltung nur eines von mehreren als relevant in Frage kommenden Kriterien.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei es eine Frage des Einzelfalls, dessen Umstände umfassend zu würdigen seien, ob ein Stagnieren des Stands der Technik über lange Zeit darauf hindeute, dass die neue Erfindung dem Fachmann durch den Stand der Technik nicht nahegelegt war ( BGH, Urteil vom 29. Juni 2010 – X ZR 49/09 , GRUR 2010, 992 Rn. 28 – Ziehmaschinenzugeinheit II).
Ebenso sei es eine Frage des Einzelfalls, ob außer aktuellen technischen Lösungen, die der Fachmann in der Regel ohne weiteres auf ihre Eignung als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung prüfen würde, hierfür auch ältere Lösungen in Betracht zu ziehen seien.
Zu den zu würdigenden Umständen könnten die Entwicklungszyklen auf dem in Rede stehenden Gebiet ebenso gehören wie die Abhängigkeit der Produktentwicklung von außertechnischen Faktoren wie etwa in der Bekleidungs- und Schuhindustrie zu berücksichtigenden jeweils aktuellen modischen Trends.

Es könne aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die zur Rechtfertigung des vom Fachmann gewählten Ausgangspunkts anzustellenden Überlegungen nur ein Hilfskriterium bei der Beurteilung der Frage beträfen, ob die technische Lehre der Erfindung auf erfinderischer Tätigkeit beruhe. Bliebe eine seit vielen Jahren bekannte technische Lösung, die die wesentlichen Elemente der Erfindung bereits enthielten, mit der Begründung unbeachtet, der Fachmann hätte den Lösungsansatz wegen des zeitlichen Abstands nicht in Betracht gezogen, würde nicht ein neuer und erfinderischer Beitrag zum Stand der Technik mit einem Schutzrecht gewürdigt, sondern die bloße „Wiederentdeckung“ eines bekannten technischen Konzepts prämiert. Es bedürfe daher in derartigen Fällen einer besonders sorgfältigen Prüfung, ob die ältere Lösung tatsächlich außerhalb desjenigen Bereichs liegt, in dem sich am Prioritätstag aus fachmännischer Sicht mögliche Ansatzpunkte für die Lösung des technischen Problems finden ließen.

Der X. Senat des BGH befand im vorliegenden konketen Fall, dass die Entwicklungszyklen bei Schuhen, insbesondere Sportschuhen, relativ kurz seien und es sich bei der Schuhentwicklung und -herstellung um einen schnelllebigen Wirtschaftssektor handele. Deren Weiterentwicklung sei nicht stetig, schnell und in nur eine technische Richtung gewandt, so dass für den Fachmann ein Rückgriff auf eine ältere oder längere Zeit nicht mehr angewandte Technik grundsätzlich in Betracht käme.

Dagegen spräche zunächst die nicht substantiiert angegriffene und im Grundsatz mit der Beschreibung des Streitpatents übereinstimmende Feststellung des Patentgerichts, dass gerade bei Sportschuhen in den letzten Jahrzehnten ein Trend zu stabilen und trotzdem leichten Schuhen mit textilen Obermaterialien zu erkennen sei. Darüber hinaus unterlägen, wie die Klägerin zutreffend ausführt, Schuhe und Sportartikel modischen Trends, weswegen Neuerungen nur zum Teil allein technischen Entwicklungen geschuldet seien. Aber, um einen „Retrolook“ zu schaffen, werde gegebenenfalls auf optische Stilmittel aus der Vergangenheit zurückgegriffen. Dementsprechend habe der Fachmann Anlass, bei der „Wiederkehr“ einer bestimmten Gestaltung oder eines bestimmten Materials auch ältere Lösungen zu deren technischer Realisierung in Betracht zu ziehen.
Kommentar / Fazit:

Der X. Senat des BGH knüpft an der Auffassung an, dass das Benennen eines nächstliegenden Stands der Technik, nicht notwendig sei. Auch das Alter des Stands der Technik oder dass für lange Zeit keine Weiterentwicklung stattgefunden hat, seien hinreichende aber keine notwendigen Ansatzpunkte zur Beurteilung des Stands der Technik.

Vielmehr sei es für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevant, ob der Fachmann eine Veranlassung hatte, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt.

Die Gründe, warum in einem bestimmten Technikfeld lange Zeit keine Weiterentwicklungen stattfinden kann eine Vielzahl von Gründen haben. Neben den in der Entscheidung genannten Gründen, kann ein Fokussieren auf eine bestimmte Technologie Unternehmen dazu zwingen, Forschungen und Weiterentwicklungen paralleler Technologien aus Kostengründen einzustellen oder zurückzustellen.

Darüber hinaus können beispielsweise gesetzliche Bestimmungen bestimmte Weiterentwicklung fördern oder behindern.

Der Grund, weshalb diese eingestellen Weiterentwicklungen dann keinen Fortschritt erfahren ist, zutreffender Weise, nicht immer zwingend der Komplexität der paralleln Weiterentwicklung geschuldet.

Bei der Beurteilung und/oder der Argumentation der erfinderischen Tätigkeit sollten daher nachfolgende Punkte Teil einer zielführenden Argumentation sein, zu denen Stellung zu beziehen ist:

  • Hatte ein Fachmann Veranlassung für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der konkrete Stand der Technik zur Verfügung stellt (definieren Ausgangspunkt)?
  • Gab es Gründe für ein (langfristiges) Stagnieren von Weiterentwicklungen?
  • Gibt es Gründe für ein Wiederaufgreifen der älteren Technologie?

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